Enlicitide: Die erste orale PCSK9-Therapie zur wirksamen Cholesterinbehandlung. Blog#238

Kurzfazit
  • Ein oraler PCSK9-Hemmer galt als kaum realisierbar – ein Team von Medizinalchemikern bei Merck&Co (USA) hat dies erstmals ermöglicht.
  • Enlicitide senkt LDL um etwa 60 % und erreicht damit das Niveau moderner PCSK9-Antikörper.
  • Sicherheit und Verträglichkeit waren in den Studien vergleichbar mit Placebo.
Kardiovaskuläre Erkrankungen gehören seit Jahrzehnten zu den zentralen Herausforderungen der modernen Medizin. Herz-Kreislauf-Erkrankungen, insbesondere Herzinfarkte und Schlaganfälle, bleiben weltweit die führenden Todesursachen. Einer der entscheidenden Risikofaktoren ist ein dauerhaft erhöhter LDL‑Cholesterinspiegel. Über viele Jahre hinweg fördert ein zu hoher LDL‑Wert unbemerkt die Bildung atherosklerotischer Plaques, wodurch sich die Arterien allmählich verengen – häufig ohne frühe Beschwerden.

Statine haben diese Entwicklung bei Millionen Menschen deutlich verlangsamt und das Risiko kardiovaskulärer Ereignisse erheblich gesenkt. Dennoch erreichen etwa die Hälfte bis zwei Drittel der Betroffenen ihre empfohlenen LDL‑Zielwerte nicht. Zudem verträgt ein kleiner Teil der Patienten (rund 5 %) Statine wegen Muskelschmerzen oder anderer Nebenwirkungen schlecht.

Für diese Patientengruppe stehen seit 2015 PCSK9‑Inhibitoren zur Verfügung, die das LDL‑Cholesterin sehr effektiv und zuverlässig senken. Diese Antikörper werden in der Regel alle zwei bis vier Wochen subkutan injiziert. Sie gelten als äußerst wirksam und sicher, sind jedoch kostspielig – in Deutschland liegen die jährlichen Therapiekosten meist zwischen 3.500 und 4.500 Euro.

Vor diesem Hintergrund ist das Interesse an einer wirksamen oralen Alternative gut nachvollziehbar – eine Tablette, die ähnlich effektiv wirkt, galt jedoch lange als unerreichbar.

Die wissenschaftliche Hürde: Warum eine orale PCSK9‑Hemmer‑Pille lange als unrealistisch galt

PCSK9 (Proproteinkonvertase Subtilisin/Kexin Typ 9) ist ein zentrales Regulatorprotein im Cholesterinstoffwechsel. Es bindet an LDL‑Rezeptoren in der Leber und fördert deren Abbau, wodurch weniger LDL‑Cholesterin aus dem Blut entfernt wird. Wird PCSK9 blockiert, steigt die Zahl funktionsfähiger LDL‑Rezeptoren – und der LDL‑Spiegel im Blut sinkt deutlich.

Das Problem: Die Bindungsfläche von PCSK9 ist groß und relativ flach. Solche Protein‑Protein‑Interaktionsflächen gelten für herkömmliche kleine Moleküle als schwer zugänglich, weil sie kaum klare Bindungstaschen bieten. Antikörper können diese Strukturen effektiv erkennen, müssen aber aufgrund ihrer Instabilität im Verdauungstrakt immer injiziert werden.

Um diesen lange als „undruggable“ geltenden Zielmechanismus überhaupt zugänglich zu machen, brauchte es einen ungewöhnlich kreativen Ansatz. Enlicitide (MK-0616) wurde schließlich über ein mRNA-Display-Screening identifiziert, bei dem rund 10^14 Peptidvarianten nach hochaffinen Bindern durchsucht wurden – eine der leistungsfähigsten Technologien der modernen Wirkstoffforschung, weil sie extrem große Molekülbibliotheken systematisch und präzise auswertet.

Erst danach begann die eigentliche Schwerstarbeit: eine medizinalchemische Optimierung, die in ihrer Tiefe und Konsequenz beeindruckt. Stabilität, orale Bioverfügbarkeit, Schutz vor proteolytischem Abbau und Bindungsstärke mussten parallel und iterativ verbessert werden – ein Prozess, der aus meiner Sicht nahezu heroische Entwicklungsarbeit erforderte.
Das Ergebnis dieser Kraftanstrengung war MK-0616: ein makrozyklisches Peptid aus acht Aminosäureresten, von denen sechs nicht-kanonisch sind – also nicht zu den 20 natürlichen, genetisch codierten Bausteinen zählen. Das Molekül besitzt zwei makrozyklische Domänen, darunter einen beeindruckenden 37-gliedrigen Ring, und bringt ein Molekulargewicht von 1616 Dalton auf die Waage. Diese ungewöhnliche Architektur ist kein Zufall, sondern das Resultat einer präzise gesteuerten medizinalchemischen Optimierung. Nur durch diese strukturelle Feinabstimmung ließen sich die nötige Stabilität, Selektivität und orale Resorption überhaupt erreichen.

MK-0616 bindet an PCSK9 mit außergewöhnlich hoher Affinität (Ki = 5 pM) und blockiert zuverlässig die Interaktion zwischen PCSK9 und dem LDL-Rezeptor.

Die industrielle Herstellung eines derart komplexen Makrozyklus ist naturgemäß anspruchsvoll: Viele Einzelschritte, empfindliche nicht-kanonische Aminosäuren und mehrere exakt kontrollierte Makrozyklschlüsse machen klassische Strategien schnell unwirtschaftlich. Die erste Synthesegeneration erwies sich denn auch als technisch kaum praktikabel. Merck entwickelte daher eine völlig neue, modulare und konvergente lösungsphasenbasierte Fragmentstrategie – ein deutlicher Bruch mit der üblichen Festphasen-Peptidsynthese (SPPS).

Diese Strategie beseitigte zentrale Engpässe: Die lineare Synthesestrecke verkürzte sich von 28 auf 21 Schritte, und die Gesamtausbeute stieg gegenüber der ersten Generation um den Faktor 1000. Wesentliche Verbesserungen waren die gezielte Umordnung der Sequenz, sodass der entscheidende Makrozyklschluss erst zu einem späteren, effizienteren Zeitpunkt erfolgte, sowie der Einsatz kontrollierter Kristallisation. Letztere wurde überhaupt erst möglich, nachdem drei kristalline Zwischenprodukte identifiziert worden waren – ein seltener Glücksfall in der Peptidchemie. Zusätzlich integrierte Merck biokatalytische und chemoenzymatische Verfahren, um die nicht-kanonischen Aminosäuren deutlich effizienter herzustellen. Dadurch konnten Aufwand und Komplexität weiter reduziert und die großtechnische Produktion realisierbar gemacht werden.

Das Ergebnis ist bemerkenswert: Enlicitide erreicht eine orale Bioverfügbarkeit von etwa 7 % im Hund und rund 2 % im Menschen – ausreichend, um nach oraler Gabe therapeutisch relevante Plasmaspiegel zu erzielen. Damit steht erstmals ein Kandidat zur Verfügung, der eine wirksame PCSK9-Hemmung in Tablettenform prinzipiell ermöglicht.

Vor einem Jahrzehnt wäre ein solcher Ansatz kaum vorstellbar gewesen. Die Entwicklung von Enlicitide zeigt, wie moderne Screening-Technologien, strukturbasiertes Design und medizinalchemische Präzision selbst komplexe Zielproteine wie PCSK9 zugänglich machen können. Ähnliche Strategien könnten künftig weitere makrozyklische Peptide hervorbringen, die bislang nur injizierbar waren – und nun erstmals realistische Kandidaten für die orale Anwendung sind.

Was die klinischen Studien zeigen: Wirksamkeit auf Injektionsniveau

Das groß angelegte CORALreef-Studienprogramm von Merck, das über 19.000 Teilnehmer einschließt, untersucht die Wirksamkeit und Sicherheit des oralen PCSK9-Hemmers Enlicitide. Die bisherigen Ergebnisse zeigen für ein oral verabreichtes Medikament außergewöhnlich starke LDL-Senkungen:
  • Phase 2: LDL-Reduktion um bis zu 61%
  • Phase 3 (CORALreef Lipids): LDL-Senkung um 55,8% (Primäranalyse) bzw. 59,7% (Post-hoc)​
  • Studie „CORALreef HeFH“: LDL-Abnahme um 61,5% bei Patienten mit familiärer Hypercholesterinämie​
Damit erreicht Enlicitide eine LDL-Senkung, die deutlich über derjenigen moderner Statine (30–50%) liegt und sich mit den Werten parenteral injizierbarer PCSK9-Antikörper (50–60%) vergleicht. Die tägliche Tabletteneinnahme kommt damit therapeutisch fast an die Injektionstherapien heran.​

Ein weiterer praktischer Vorteil ist die außergewöhnlich hohe Adhärenz: In den Studien lag sie bei 97 %. Adhärenz bezeichnet, wie zuverlässig Patienten eine Behandlung so einnehmen, wie sie medizinisch vorgesehen ist – also in der richtigen Dosierung und zum richtigen Zeitpunkt. Eine hohe Adhärenz ist entscheidend, weil viele Therapien nur dann ihre volle Wirksamkeit entfalten. Die tägliche Einmalgabe als Tablette erleichtert genau dieses konsequente Anwenden. Sie reduziert Aufwand und Komplexität im Alltag und verbessert damit die Wahrscheinlichkeit, dass Patienten die Therapie langfristig fortführen. Dadurch steigt das Potenzial dieser neuen Wirkstoffklasse, in der breiten Versorgung tatsächlich einen Unterschied zu machen.

Sicherheit: Das zentrale Argument für den Alltag

Ein Medikament für Millionen Menschen muss nicht nur wirken – es muss auch sicher sein. Die Daten zeichnen ein konsistentes Bild:
  • Das Sicherheitsprofil ähnelt Placebo: Unerwünschte Ereignisse traten in beiden Gruppen ähnlich häufig auf.
  • Es gab keine dosisabhängigen Probleme.
  • Studienabbrüche aufgrund von Nebenwirkungen waren selten.

Wer besonders profitieren könnte

Ganz praktisch betrachtet, adressiert Enlicitide zwei große Patientengruppen:
1. Menschen, die Statine nicht vertragen
Für sie war die Wahl bisher: moderate LDL-Senkung oder regelmäßige Injektionen von PCSK9- Antikörpern. Eine starke orale Option füllt genau diese Lücke.
2. Hochrisikopatienten, die trotz Therapie nicht am Ziel sind
Viele erreichen ihre LDL-Zielwerte nicht, selbst wenn sie Statine optimal nutzen. Mit Enlicitide gelang es in der CORALreef-Lipids-Studie 67,5 % der Teilnehmer, LDL-Werte unter 55 mg/dL zu erreichen – ein Wert, der bislang häufig nur mit Spritzen möglich war.

Die entscheidende offene Frage

So beeindruckend die bisherigen Zahlen auch sind – die entscheidende Frage lautet:
  • Senkt Enlicitide tatsächlich das Risiko für Herzinfarkte und Schlaganfälle?
Zur Klärung läuft derzeit die große CORALreef-Outcomes-Studie mit über 14.500 Teilnehmern. Ihre Ergebnisse werden zeigen, ob und wie stark sich die Therapie in der klinischen Praxis durchsetzen kann. Die PCSK9-Antikörper haben bereits belegt, dass eine etwa 60-prozentige LDL-Senkung zu einer signifikanten Verringerung kardiovaskulärer Ereignisse führt. Doch jeder neue Wirkstoff muss diesen Nachweis erneut erbringen.

Fazit

  • Enlicitide liefert den ersten überzeugenden klinischen Nachweis, dass eine orale PCSK9‑Hemmung technisch und pharmakologisch machbar ist.
  • Sollte die laufende Outcomes-Studie – also die Prüfung, ob Enlicitide nicht nur Laborwerte, sondern auch Herzinfarkte und Schlaganfälle verringert – diesen Nutzen bestätigen, dürfte der Wirkstoff künftig eine wichtige Rolle in der Prävention kardiovaskulärer Ereignisse spielen. Die Ergebnisse werden 2026 erwartet, ebenso wie der geplante Zulassungsantrag von Merck – als Ergänzung, nicht als Ersatz zu Statinen.
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Verantwortlicher: Klaus Rudolf; Kommentare und Fragen bitte an: rudolfklausblog@gmail.com
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